Schnittmuster anpassen (Teil 1)

 

Wer Kleidung näht, wird vermutlich früher oder später auf die Tatsache stoßen, dass Schnittmuster häufig an den individuellen Körperbau angepasst werden müssen. 

Das heißt, "müssen" ist natürlich relativ. Gleich vorweg: Ich finde, erlaubt ist, was gefällt! Solange Du Dich wohlfühlst und mit Deinem Näh-Ergebnis zufrieden bist, brauchst Du natürlich nichts ändern! Du bestimmst, wie eng oder wie weit, wie kurz oder wie lang Dein Kleidungsstück ist, welche Körperstellen Du betonen möchtest und Du bestimmst, was Dir steht und was "vorteilhaft" für Dich ist!

 

Oft kommt aber der Wunsch auf, die Passform eines selbstgenähten Kleidungsstücks zu verbessern, und rund um das Thema Schnittmuster-Anpassungen entstehen dann nicht selten viele Fragen.

 

WARUM MUSS ICH DENN ÜBERHAUPT ANPASSEN?

 

Ich verstehe das: Du nähst ein Kleidungsstück, hast im besten Fall vorher die Maßtabelle studiert und die Größe entsprechend ausgewählt, hast Zeit, Arbeit und Material investiert, und dann sieht das Kleidungsstück an Dir irgendwie nicht so toll aus - das ist natürlich erst mal eine Enttäuschung! Dabei hat es doch an der Freundin, der Nähbloggerin, auf den Fotos auf Instagram etc. so schön ausgesehen! Wahrscheinlich ärgerst Du Dich jetzt, dass Du Material verschwendet und das Schnittmuster gekauft hast und verfluchst die DesignerIn, oder - noch viel schlimmer - Du bist frustriert, weil Du denkst, dass irgendwas mit Deinem Körper, mit Deiner Figur nicht stimmt.

 

Aber so ist es nicht!

 

Beim Konstruieren von Schnittmustern (es sei denn, es handelt sich um einen Maßschnitt für EINE Person) geht es nicht anders, als auf Durchschnittswerte zurückzugreifen. Es gibt natürlich einen gewissen Spielraum (welche spezifischen Maßtabellen (die sind nicht einheitlich!) und Durchschnittswerte werden angenommen; Aspekte des Designs wie Mehrweite usw.), aber es braucht immer Kategorien und Verallgemeinerungen. 

Natürlich: Auch wenn es Regeln für die Konstruktion von Schnittmustern gibt, hat jede/r DesignerIn und jede Marke eine eigene Handschrift und ist wahrscheinlich auch von persönlichen Vorlieben geprägt. Daher wird der Hosen-Schnitt von Label 1 nicht genau gleich ausfallen wie der von Label 2, auch wenn beide z.B. eine Hose mit weitem Bein und Gummibund anbieten. 

Vielleicht hast Du Dich schon durch einige Schnitte und Schnittanbieter durchgetestet. Möglicherweise hast Du dabei auch Schnitte gefunden, die Dir gut passen - wunderbar, dann kannst Du dabei bleiben. Wenn nicht, dann kannst Du weitersuchen - Du kannst die Sache aber auch ein Stück weit selbst in die Hand nehmen. Denn "echte" Körper sind eben unterschiedlich! (Ich schreibe im Folgenden immer über Frauen, aber natürlich sind auch Männer- und Kinderkörper unterschiedlich und Schnitte müssen auch hier angepasst werden.)

 

Zum Beispiel:

Zwei Frauen wählen laut Maßtabelle dieselbe Konfektionsgröße aus, der gemessene Körperumfang an Brust, Taille und Hüfte ist bei beiden gleich oder sehr ähnlich. Nun hat die eine Frau aber ein breites Becken und ein flaches Gesäß, die andere hat eher schmalere Hüften und einen runden Po - beide erhalten aber, wenn sie das Maßband rund um den Körper legen, einen ähnlichen oder sogar genau denselben Wert für den Hüftumfang.

Die eine Frau hat einen breiten Oberkörper und dabei aber eher flache Brüste, die andere ist eher schmal gebaut, hat aber einen großen Busen - das Rundum-Maß für den Brustumfang ist aber wieder dasselbe.

Beide Frauen haben dieselbe Körperlänge, das Verhältnis von Ober- und Unterkörper muss aber deshalb nicht dasselbe sein, die eine kann z.B. viel längere Beine haben als die andere, ebenso kann die natürliche Taille (die schmalste Stelle des Körpers) an einer anderen Stelle sein...

Und so weiter, und so weiter... dazu kommen noch weitere Faktoren wie z.B. die Körperhaltung. Die eine Frau hat ein Hohlkreuz, die andere einen runden Rücken, die eine hat abfallende oder nach vorne geneigte Schultern, die andere ein leicht gekipptes Becken, die eine Frau ist muskulös, die andere nicht, etc. etc. Außerdem sind Körper nicht symmetrisch. Auch verändern sie sich im Lauf des Lebens, das Alter kann also auch eine Rolle spielen. Nicht zu vergessen sind auch zusätzliche Faktoren wie z.B. die Unterwäsche, die getragen wird - je nach Wahl des BHs kann ein Oberteil beispielsweise ganz anders sitzen (denk an den Unterschied zwischen einem weichen bügellosen BH und einem Push-Up-BH; manche Frauen möchten auch gar keinen BH tragen...)

Ganz wichtig dabei: All diese Besonderheiten sind keine Abnormitäten, keine Makel oder Fehler - es ist völlig normal, dass menschliche Körper unterschiedlich gebaut sind, und diese kleinen Unterschiede sind auch nicht sofort ersichtlich und vielen gar nicht bewusst. 

 

So betrachtet ist es eigentlich gar nicht so verwunderlich, dass ein Schnittmuster nicht an allen gleich gut sitzt, oder? Und auch bei Kaufkleidung haben es die meisten schon erlebt, dass nicht alles, was sie anprobieren, auch passt, auch wenn die Konfektionsgröße eigentlich stimmt, auch hier muss frau sich unter Umständen durch viele Modelle durchprobieren, bis sie ein Kleidungsstück mit für sie guter Passform findet.

 

Das alles mag jetzt erst einmal abschreckend klingen, ist aber in gewisser Weise durchaus ein Vorteil. Sobald Dir klar ist, dass Unterschiede normal sind, kannst Du nämlich den nächsten Schritt gehen:

Während Du, wenn Du Kleidung kaufst und somit auf das vorhandene Angebot angewiesen bist, viel eher Kompromisse eingehen oder möglicherweise sehr lange suchen musst, um etwas Passendes zu finden, hast Du beim Selbernähen den großen Vorteil, dass Du ganz individuell auf Deine Bedürfnisse eingehen kannst.

 

 

WIE FANGE ICH AN?

 

Ich glaube, den Anfang macht eine wohlwollende, liebevolle, wertschätzende, aber ehrliche und genaue Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper.

Vielleicht ist Dir auch schon aufgefallen, dass Du, auch bei unterschiedlichen Schnitten und Labels, immer wieder ähnliche Passformprobleme hast. Wenn bei fast allen Oberteilen die Armausschnitte kneifen oder sich bei allen Röcken der Bund nach oben schiebt, oder, oder, oder... dann ist das wahrscheinlich nicht mehr zufällig und Du kannst versuchen, die Ursache dafür herauszufinden.

 

Ganz wichtig dabei: Kein Körper ist falsch! Aber jeder Körper ist anders, und nur, wenn Du genau hinsiehst und Deine Besonderheiten erkennst und akzeptierst, hast Du eine gute Ausgangssituation für Schnittmuster-Änderungen (die Betonung liegt auf Schnittmuster-Änderungen, nicht der Körper muss "verbessert" werden).

Dabei spielt übrigens Dein Gewicht keine Rolle - es ist ein großer Irrglaube, dass nur dickere Frauen Anpassungen machen müssen! Auch schlanke Frauen haben unterschiedliche Körper und Proportionen und müssen ebenso Anpassungen machen, nur vielleicht andere.

 

 

WIE ERKENNE ICH ÄNDERUNGSBEDARF? 

 

Für viele ist es gar nicht so einfach, einen nicht optimal sitzenden Schnitt als solchen zu erkennen bzw. noch schwieriger, herauszufinden, was es denn eigentlich genau ist, das daran nicht so ganz stimmt. Hier kann übrigens auch der Blick oder die Meinung einer weiteren Person helfen; das eigene Spiegelbild objektiv zu betrachten, ist einfach sehr schwer.

 

Ein deutliches Zeichen ist, finde ich, mangelnde Bequemlichkeit. Es ist nicht nötig, dass Du Kleidung trägst, die irgendwo kneift oder zwickt, die ständig hoch- oder runterrutscht oder die Du immer wieder "in Form" ziehen musst.

 

Weiters sind Falten (also solche, die nicht im Design vorgesehen sind) oft ein Anzeichen für Anpassungsbedarf. 

Dabei zeigen Falten normalerweise überschüssigen Stoff an: Senkrechte Falten weisen auf zu viel Weite hin, waagrechte Falten auf zu viel Länge (wenn der Stoff sich also "staut"). Sogenannte "Zugfalten" (diagonale oder auch waagrechte Falten), die oft von einer bestimmten Körperstelle ausgehen (z.B. von der Brust) deuten darauf hin, dass das Kleidungsstück dort zu eng ist oder durch Abnäher dreidimensionaler geformt werden müsste...

Zugegeben, es ist gar nicht so leicht, Falten zu unterscheiden oder deren Ursprung oder Ausgangspunkt festzumachen, hier muss man schon genau hinsehen lernen, und es braucht auch einfach Übung. Dennoch ist das kein Grund, gar nicht erst anzufangen ;-), denn schon kleine Erkenntnisse können einen großen Aha-Effekt bewirken... 

 

Kleiner Exkurs: Ein meiner Meinung nach weiterer wichtiger Punkt ist es, sich klar zu machen, dass nicht jeder Schnitt, nicht jede Art von Kleidungsstück jeder Frau steht. Auch wenn das Kleidungsstück an sich passt oder gut angepasst wurde, ist es vielleicht für die eine oder andere einfach nicht besonders "schmeichelhalft". Das hat etwas mit den Körperformen und Proportionen zu tun. Es gibt verschiedene Figur-Typen und Körpersilhouetten und gewisse Schnittformen, die besser zu der einen oder anderen Körperform passen bzw. dazu beitragen können, eine ausgewogene, harmonische Silhouette zu erzeugen. Auch wenn der persönliche Geschmack hier ruhig eine Rolle spielen darf, ist es vielleicht hilfreich, solche "Grundregeln" im Hinterkopf zu behalten und Dir zu überlegen, welche Körperregionen Du eher betonen möchtest und welche nicht so. (Wenn ich z.B. meine Körpersilhouette betrachte/ausmesse, erkenne ich, dass meine Schultern breiter als meine Hüften sind - das hat mir geholfen, zu verstehen, warum mir z.B. Oberteile mit überschnittenen Schultern oder Rüschen, Kräuseln (Puffärmel z.B.) im Schulterbereich nicht so gut stehen; wenn ich hingegen einen ausgestellten Rock oder eine weite Hose trage und somit optisch meine Hüften betone, entsteht eine Art "Ausgleich" - so zumindest mein persönliches Wohlfühlgefühl.)

 

 

WELCHE ÄNDERUNGEN GIBT ES ?

 

Anpassungsmöglichkeiten gibt es wirklich, wirklich viele, manche davon leicht umzusetzen, manche schwieriger.

In einem zweiten Blogartikel sammle ich ein paar häufige Passformprobleme und Änderungsmöglichkeiten und stelle eine Liste mit Links und Literaturtipps zusammen.

Auch in meinen E-Books für Damenschnittmuster erhältst Du bereits jeweils ausführliche Erklärungen zu den wichtigsten Anpassungsmöglichkeiten.

 

 

DIE PERFEKTE PASSFORM?

 

Wann etwas gut genug ist, ist auch eine Frage der eigenen Ansprüche und des persönlichen Perfektionismus.

Du kannst auch in eine Art "Anpassungsrausch" geraten und siehst plötzlich überall nur noch Falten und Fehler und bist plötzlich mit gar nichts mehr zufrieden. Einem Betrachter von außen würden diese "Mängel" hingegen vermutlich überhaupt nicht auffallen.

Auch beim individuellen Anpassen muss es also Kompromisse geben, schließlich soll das Kleidungsstück am Ende bequem und alltagstauglich sein und soll Bewegungen mitmachen. Völlige Faltenfreiheit und hundertprozentige Perfektion sind nicht möglich! 

 

 

IST DAS NICHT ALLES VIEL ZU SCHWIERIG?

 

Zugegeben, Schnittmuster-Anpassungen können zur Herausforderung werden. Es wird auch nicht immer sofort die gewünschte Wirkung eintreten, und ein schnelles Erfolgs-Erlebnis ist nicht garantiert. Du musst bereit sein, Zeit und Stoff und auch Nerven zu investieren, evtl. auch mal mehrere Probestücke zu nähen und den Nahttrenner in die Hand zu nehmen. (Wenn Du einfach jedes Mal ein neues Schnittmuster ausprobierst, in der Hoffnung, dass es zufällig ohne Anpassungen passen wird, verbraucht das aber nicht weniger Stoff oder Zeit...)

Auf der anderen Seite bieten Anpassungen eine große Chance, Dich in Deiner Kleidung wohler und schöner zu fühlen. Wenn Du Dir schon "die Mühe machst", Deine Sachen selbst zu nähen, dann nutze doch die Gelegenheit, sie für Dich abzustimmen. 

Es gibt viele gute Bücher und Anleitungen, und viele Änderungen lassen sich auch ohne großen Aufwand umsetzen, auch für HobbynäherInnen und "Laien". Du kannst Dich ruhig trauen! 

Ein Schnittmuster ist nichts Unantastbares, Du darfst es für Dich passend machen oder eigene Ideen einbringen; betrachte es eher als Ausgangspunkt mit vielen Möglichkeiten und nicht als etwas Feststehendes.

Vielleicht fängst Du mit kleinen Änderungen an und nimmst Dir erst einmal ein Schnittmuster vor, mit dessen Sitz Du schon großteils zufrieden bist. Mit kleinen Schritten kannst Du schon viel bewirken. Taste Dich langsam an das Thema heran und nimm Dir die Zeit, Dich in Ruhe mit den Anpassungen zu beschäftigen.

 

Eine Änderung zu machen, ist keine Strafe - im Gegenteil, Du tust Dir etwas Gutes und kannst Dir am Ende Kleidungsstücke schenken, die viel besser zu Deinem einzigartigen Körper passen!

 

 

 

--> Hier geht es zum 2. Teil dieses Beitrags.

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Kommentare: 2
  • #1

    Claudia H (Freitag, 05 Juni 2020 11:44)

    Ein sehr schöner Artikel, der auch mir als Anfängerin Mut macht, Anpassungen zu versuchen!

  • #2

    Beate Schnurr (Montag, 15 Juni 2020 10:48)

    Toller Artikel, der mich veranlasst, Acacia erst als Muster zu nähen. Zumindest das Oberteil ist wichtig.
    Dankeschön